Verkehrswende
Autoverkehr: 100 Milliarden Euro Schaden
(15. August 2024) Durch Autolärm und -abgase entstehen externe Kosten, die in der Regel nicht von Autofahrern gezahlt werden. 100 Milliarden Euro sollen es jährlich sein, so eine vom Bündnis Klima-Allianz in Auftrag gegebene Studie. Die Schäden sind 21-mal höher als die durch den öffentlichen Verkehr verursachten.
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Bescheuerter Verkehr
Eine Fußgängerzone heißt im Beamtendeutsch „verkehrsfreies Gebiet“. Fußgänger sind keine Verkehrsteilnehmer? Schon die Sprache reizt den Forscher Heiner Monheim, der die Straße modernisieren will. Hanna Gersemann von der zur taz gehörenden Zeitschrift Zeozwei hat Monheim interviewt. Wir zitieren mit freundlicher Genehmigung des Verlags.
(04. Januar 2017)
Heiner Monheim | Jahrgang 1946, Professor für Geografie, Raumentwicklung und Landesplanung an der Universität Trier. Mittlerweile emeritiert, lebt er in Bonn und Malente. Er hat unter anderem den Verkehrsclub Deutschland, VCD, den Allgemeinen Deutschen Fahrradclub, ADFC, und das Bündnis „Bahn für Alle“ mitgegründet. Anfang der 1970er Jahre wirkte er in der Bundesforschungsanstalt des Städtebauministeriums und wollte eine Studie »Fahrrad im Nahverkehr« machen. Er stellte die Idee als junger Beamter in einem interministeriellen Ausschuss vor. Der Vertreter des Wirtschaftsministers bekam einen Lachanfall und sagte: „Ich schlage die Einsparung dieses Unsinns vor, Fahrrad ist Spielzeug, was soll der Blödsinn“. Monheim machte weiter.
Herr Monheim, gibt es ein Auto, das Sie niemals fahren würden?
Ja, so ein SUV-Schlitten wäre mir peinlich. Warum interpretieren Menschen so viel in ein Fortbewegungsmittel? Mit der einen Marke wirken sie jugendlich agil, mit einem anderen wohlhabender, immer auf jeden Fall rasant. Die Autohersteller vermitteln erfolgreich Bilder, indem sie in die Werbung so viel Geld stecken wie keine andere Branche: 230 Millionen Euro weltweit, jeden Tag.
Hatten Sie mal einen VW-Bulli?
Nein. Aber ich bin viel getrampt mit VW-Bullis. Das war die rollende WG der Hippies. Nicht nur die Werbung entscheidet, auch das Lebensgefühl.
Aber das fällt ja nicht vom Himmel.
In den Siebzigern gab es einen Filmklassiker: „Mama, Papa, Auto“. Der Titel suggeriert, das Auto gehört zur Familie und Auto ist das dritte Wort, das Kinder lernen.
Das war noch zu Zeiten, als kurz nach der Tagesschau im Fernsehen der 7. Sinn lief, drei Minuten lang Verkehrserziehung. Hat die Welt sich etwa nicht geändert?
Sicher, aber die Werber spiegeln und beeinflussen das zugleich. Von 1974 bis 1978 hat sich der Marktanteil des Radverkehrs in Deutschland von sechs auf zwölf Prozent verdoppelt. Da hatte die Werbewirtschaft das Fahrrad entdeckt als Symbol für Jugendlichkeit, Freiheit, Spontanität. Sie konnten zu der Zeit keinen Sekt, keine Kosmetika, keine Mode kaufen, ohne dass auf den Werbebildern zumindest Teile eines Rads drauf waren, ein Lenker oder Speichen. Später wurde das Rad dann als grünes Müslivehikel diffamiert.
Weil sich die bürgerliche Mitte gegen die aufkommenden Grünen wehrte?
Ja, da gab es plötzlich Reaktanz, Anti-Fahrradstimmung. Lässige Genussradler galten jetzt als militante Verkehrsrowdys. Das hat nichts mit Verstand, aber viel mit Stimmungen zu tun. Heute bewirbt BMW seinen Mini mit „Starke Typen braucht die Stadt“. Die Hersteller fürchten die Frage der Stadtmenschen: „Brauche ich eigentlich noch ein Auto?“, weil Parkplatzsuche und Staus nerven. Eigentlich ist das Auto in Berlin, München oder Hamburg schon fast abgemeldet.
Ernsthaft? Da reiht sich derzeit ein Auto an das nächste.
Rund die Hälfte der Großstädter hat kein Auto mehr. Man merkt das nur nicht, weil die Verkehrspolitiker immer noch so planen, als hätte jeder ein Auto.
Das stimmt vielleicht in Berlin, aber nicht in Bonn oder Osnabrück.
Selbst auf dem Lande haben 25 Prozent der Leute kein Auto. Weltweit sind im Schnitt sogar 80 Prozent aller Haushalte ohne.
Die Autokonzerne drängen aber auf die Märkte in China oder Lateinamerika.
Wer einfach den Stau exportiert, wie das die deutschen Unternehmen derzeit tun, handelt unverantwortlich. Die Weltgemeinschaft hat sich in Paris auf Klimaschutzziele verständigt. Bis 2050 sollen Wirtschaft und Verkehr treibhausgasneutral funktionieren. Das geht nicht mit massenhaftem Autoverkehr.
Was machen Sie mit Ländern, die Nachholbedarf haben?
Die sind zum Teil viel klüger als wir. Nehmen sie China. Dort sind schon vor acht Jahren Motorräder mit Verbrennungsmotor von jetzt auf gleich verboten worden. Ich bin mir sicher, dass es keine fünfzehn Jahre mehr dauert, bis dort auch der Ausstieg aus dem herkömmlichen Autosystem eingeleitet wird. China hat ein Riesenproblem mit Staus. Der Treibhausgasausstoß ist enorm, die Luftverschmutzung so stark, dass daran immer mehr Menschen sterben.
Wenn das so sein sollte, warum haben die Autokonzerne dann nicht längst reagiert?
China baut schon jetzt jedes Jahr viertausend Kilometer neue Bahnstrecken, investiert in moderne Busse, ist weltweit der größte Markt für Elektrofahrräder. Die machen Verkehrswende früher als die Mutterländer der Massenmotorisierung. Selbst die deutsche Autoindustrie hat seit vierzig Jahren Konzepte für das Leben ohne Auto in der Schublade.
Die schaffen sich nicht selbst ab!
Mit dem mittleren Management lässt sich über Wege aus dem Verkehrschaos längst reden, nur nicht mit den Chefs. Die wollen natürlich solange sie können am alten Geschäftsmodell festhalten. Von der Politik haben sie da bisher nichts zu fürchten, nicht einmal die Subventionen für den Diesel werden gestrichen.
Jeder Siebte in Deutschland lebt vom Auto, weil daran sein Job hängt. Sie müssen zugeben, dass die Branche wichtig ist?
Das sind Quatschzahlen. Selbst jeder Vierzehnte ist noch übertrieben. Eingerechnet sind auch die Hersteller von Bussen, Taxen und Carsharing-Autos, zudem Beschäftigte von Versicherungskonzernen, der Straßenbauwirtschaft und der Verwaltung. Dabei verdienen die Versicherer ihr Geld auch mit anderem, so wie Straßenbauer Gehwege pflastern können, stoppen Polizisten auch Radfahrer.
Die Deutschen sind aber zu einer Benzinwut fähig, die noch jede Regierung zurückschrecken ließ.
Die Wähler sind sehr viel weiter. Dass der Verkehr derzeit bescheuert ist, wissen doch fast alle. Viele sind längst von allein umgestiegen, aus dem Auto rauf aufs Rad. Nur die Politik ist zum Weglaufen, und zwar selbst dort, wo die Grünen die Verkehrsressorts haben. Oft stolpern sie über handwerkliche Fehler. Sie nehmen zum Beispiel den Autos demonstrativ eine Fahrspur weg und wundern sich über den Aufschrei.
Weil es zu eng auf den Straßen ist.
Auf den Hauptverkehrsstraßen gibt es fast überall genug Platz. Die typische Fahrspur für Autos hat heute 3,50 Meter, macht sieben Meter für zwei Spuren. Dabei reichen für ein Auto 2,25 Meter. Sie haben 2,50 Meter übrig, ohne dass sie eine Spur wegnehmen müssen.
Herr Monheim, Autos werden immer breiter.
Schauen Sie auf die Autobahnbaustellen, da sind die Fahrbahnen auf 2 oder 2,20 Meter beschränkt. Innerorts müssen es indes 3,50 Meter sein? Was für eine Verschwendung! Aber dem Politiker geht es ja um den symbolischen Akt. Also opfert er mit viel Tamtam eine Autospur, bekommt einen drauf und sagt dann seiner Verwaltung: Passt auf, geht nicht zu forsch ran. So läuft das nicht.
Wie läuft es dann?
Als Erstes analysieren Sie, wo Platz ist, und Sie machen Fotos kurz nach einem Schneefall. Dann können sie allen die Spuren der Autos im Schnee zeigen und die zwei Meter rechts und links, die niemand befahren hat. Das ist der verschenkte Platz. Den können sie neu verteilen.
Wer soll dann welchen Platz bekommen?
Die Radfahrer bekommen eine eigene Fahrspur auf der Fahrbahn. Denn da radelt es sich am sichersten. Bis zu siebzig Prozent aller Unfälle von Radfahrern passieren, wenn sie abbiegen oder eine Kreuzung queren und zuvor nicht auf der Fahrbahn gefahren sind. Sie werden dann zu leicht übersehen.
Damit ließe sich der Kampf von Autofahrern gegen Radfahrer beenden?
Der Autoverkehr ist am flüssigsten, wenn er gut kanalisiert ist und nicht zu üppig bedient wird. Bisher nutzen Planer dieses Argument viel zu selten. Das ist aber wie in einer Röhre mit Molekülen. Schwirren alle kreuz und quer, geht nicht viel durch. Reibungslos verläuft es nur, wenn sich alle parallel bewegen, heißt: wenn keiner überholt oder mit überhöhter Geschwindigkeit fährt. Zur Verkehrswende gehört aber natürlich noch mehr.
Was?
Der Zug darf zum Beispiel nicht liegen bleiben, weil das Netz marode ist. Bundesweit, auch auf dem Lande, muss ich zumindest im Halbstundentakt von überall nach überall kommen. Rufbusse, Anrufsammeltaxen, Carsharing-Anbieter und Mitfahrzentralen ergänzen das Verkehrssystem.
Sie können das nicht nur fordern, Sie brauchen auch Ideen, um Busse und Bahnen zu bezahlen.
In Frankreich zahlt jede Firma mit mehr als neun Mitarbeitern eine Nahverkehrsabgabe, das ist ein Prozentsatz von der Lohnsummensteuer. Die Kommunen können die Höhe per Satzung bestimmen. Ähnliches gibt es in Wien. Dort gibt es eine Dienstgeberabgabe, daraus wurde der Ausbau des Straßenbahnnetzes bezahlt. Dann wurden die Tarife attraktiv gemacht.
Die Tickets sind wirklich billiger?
Natürlich, in Wien, aber auch in Vorarlberg können Kunden für einen Euro am Tag das ganze regionale Verkehrsnetz nutzen. 365 Euro kostete die Jahreskarte. In Wien fährt im Schnitt jeder Einwohner sechshundertmal im Jahr mit Bus und Bahn.
Kaum vorstellbar, dass Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel den Firmen neue Abgaben aufbürdet.
Die Wirtschaft weiß, dass sie nur aus dem Stau rauskommt, wenn sie selbst etwas dafür tut. Als sich in Köln der schwedische Möbelkonzern Ikea in einem neuen Gewerbegebiet angesiedelt hat, hat er die Verlängerung einer Straßenbahn dorthin mitgezahlt. In Lübeck hat Ikea auch einen neuen Haltepunkt der Regionalbahn finanziert.
Andere sagen, der beste Weg sei, Parkplätze teurer zu machen.
Die japanischen Metropolen machen das tatsächlich vor. Nur wer dort einen Stellplatz vorweisen kann, bekommt auch eine Zulassung für sein Auto. Den müssen Sie schon mal für bis zu 80.000 Euro kaufen oder für viel Geld mieten und finden ihn eigentlich nur am Stadtrand. Denn in den Zentren und zentralen Wohngebieten dominieren kleine Gassen, in denen Sie kein Auto abstellen können. Und die Grundstückspreise sind dort viel zu hoch für Parkplätze. So wird der normale japanische Autofahrer zum Sonntagsfahrer, unter der Woche nutzt er Busse, Bahn oder das Rad.
Sie wollen zurück in die Fünfziger, als die Deutschen mit dem gewienerten Wagen sonntags zum Kaffee bei Verwandten vorbeifuhren?
Nein, zurück in die Realität. Jede Straße, jeder Parkplatz kostet. Kein Mensch redet von den riesigen Defiziten des Autoverkehrs. Dazu kommen die Schäden für die Umwelt, das Klima, die Gesundheit. Der Autoverkehr braucht Grenzen. Darüber darf man hierzulande aber nicht öffentlich reden. Warum stellt keiner die Massenmotorisierung infrage?
Das Auto stand immer für Fortschritt.
In den 1920er-Jahren waren die Leute auf dem Lande aber erst einmal sehr reserviert gegenüber dem Auto, weil Schafe, Ziegen, Kühe noch frei rumliefen und nicht über den Haufen gefahren werden sollten. Im Schweizer Kanton Graubünden war das Autofahren sogar bis 1926 verboten. Dort hat es zehn Volksabstimmungen gegen das Auto gegeben. Erst die elfte ging dann für die Öffnung aus. Die Touristen, die mit ihren Autos anreisten, waren als neue Einkommensquelle entdeckt worden. Aber sicher war das eine regionale Besonderheit. In Deutschland wurde das Auto von höchster Stelle protegiert. Prinz Heinrich, der Bruder von Wilhelm II brachte den Motorsport voran. Auch Hitler war ein großer Autofan. Zugleich kauften Ärzte und Pfarrer Autos für ihre Hausbesuche. Das Auto war dann aber nur kurz ein Segen. Schon in den 1920er-Jahren gab es in den USA die ersten großen Staus. Es gibt einfach zu viele Autos auf der Welt. Ich will aber gar nicht, dass sie komplett verschwinden.
Wie viele Autos dürften für Sie bleiben?
Gäbe es bundesweit Carsharing und moderne Mitfahrzentralen, wären nur noch vier Millionen Stück der derzeit angemeldeten und zumeist parkenden 44 Millionen Autos nötig, um Deutschland mobil zu halten. Dem steht die Macht der Autolobby entgegen. Stellen Sie sich vor, schon in den späten 1930er-Jahren hat allein der US-Autokonzern General Motors hundert Nahverkehrsunternehmen gekauft – um sie dann kaputt zu machen und die Straßenbahnen zu verschrotten.
Sie waren nicht mehr konkurrenzfähig?
Nein, die damals neu entstehenden Auto-, aber auch Erdöl- und Gummikonzerne haben die Konkurrenz einfach plattgemacht. Das steht so im Snell-Report für das US-Repräsentantenhaus aus dem Jahr 1949. Und spätestens seit den 1960er-Jahren verschwanden immer mehr Straßenbahnnetze dann auch aus Deutschland. Der ADAC startete gleich zwei Kampagnen. Die erste: Die Gehwege sind zu breit, macht Platz für Autos! Die zweite: Schafft die Straßenbahn ab, die ist nur ein Hindernis, der Bus ist moderner und flexibler! Jetzt gibt es immerhin die Renaissance der Tram.
Wo?
In München, in Leipzig. Auch in Berlin kommt sie zurück. Nur Hamburg verweigert sich noch dem neuen Trend. Als die letzte Straßenbahn 1978 in Hamburg stillgelegt wurde, versprach der Senat den Verkehrsbetrieben, sie bekämen stattdessen überall eine doppelte Busspur. Stimmt aber nicht. Der öffentliche Verkehr ist belogen und betrogen worden. Das Auto hat sich überall breitgemacht. Selbst in der Sprache.
Es gibt die Fußgängerzone?
Heißt amtlich „verkehrsfreies Gebiet“. Dabei sind oft nachher zehnmal mehr Verkehrsteilnehmer dort unterwegs als vorher. Nur zu Fuß. Das zählt aber nicht als Verkehr, weil Auto und Verkehr für uns Synonyme sind. Darum heißt es auch „verkehrsberuhigte Zone“, wenn Autos langsam fahren müssen. Dabei kommen Fußgänger oder Radfahrer dort schneller voran als vorher, weil sie nicht so viel warten müssen.
Sie fordern in Bonn eine Seilbahn. Halten Sie das wirklich für eine ernstzunehmende Alternative?
Die Seilbahn ist kein Alleskönner. Aber sie passt nicht nur in Bonn, sondern auch an 350 anderen Orten in Deutschland. Das zeigt eine Analyse, die ich zusammen mit Kollegen gemacht habe. Die Seilbahn ist perfekt, wenn das Schienennetz zum Beispiel nicht bis zu einer neuen Klinik, Messe oder Universität reicht. Sie überbrückt bis zu sechs Kilometer. Installiert man nicht so eine spektakuläre Bahn wie in Ankara, der türkischen Hauptstadt, kostet der Kilometer – Stationen mit einberechnet – zwischen fünf und zehn Millionen Euro, das ist deutlich weniger als der Kilometer Straßenbahn.
Wie schnell lässt es sich schweben?
Bis zu fünfundzwanzig Stundenkilometer, sonst wird den Leuten schlecht, weil es dann eher wie eine Achterbahn wirkt. Aber sie hält an keiner Ampel, sie bleibt nicht im Stau hängen. Und sie fährt im Dreißigsekundentakt. Das macht sie schnell und das Seilbahnfahren zu einem himmlischen Erlebnis.
Das klingt nach Ferien.
BMW wirbt auch mit Freude am Fahren. Alternativen zum Auto dürfen Spaß machen.
Verkehrswende - Raus aus der Sackgasse?
Deutschlands Energiefresser Nr.1 ist der Verkehr. Er verbraucht 50% mehr Energie als die Stromerzeugung. Vollmotorisierung gilt in Deutschland als unentrinnbares Schicksal. Dabei ist massenhafter Autoverkehr weder bequem, noch billig, noch schnell und schon gar nicht flexibel. Eine entwickelte Gesellschaft mit hoher Finanz- und Konsumkraft sollte sich zur Erhaltung ihrer Mobilität längst nach effizienteren und preiswerteren Alternativen umsehen und die immensen Folgekosten im sozialen und ökologischen Bereich durch eine Verkehrswende abbauen. Der renommierte Verkehrswissenschaftler Prof. Heiner Monheim zeigt neue Denkansätze auf.
Heiner Monheim
(Erstveröffentlichung ED 02/2001) Anzeichen einer Verkehrswende muß man derzeit in Deutschland lange suchen. Bundeskanzler und Verkehrsminister zelebrieren die "neue" Verkehrspolitik durch die rituellen Besuche von Automessen sowie die Einberufung von "Autogipfeln" und beschwören den "Spaß am Auto".
Die Bahn dagegen verkündet permanente Rückzugszahlen, kannibalisiert ihren InterRegio, streicht Güterannahmestellen und will 20% ihres Netzes loswerden, während im Anti-Stau-Programm lustig neue Straßen gebaut und viele Autobahnen auf sechs Spuren erweitert werden, als angeblich wirksames Mittel gegen Stau und weil man so viel Kraftstoff spart, wenn man noch mehr Automenschen zu noch viel mehr Autofahrten einlädt.
Angst vor dem Autovolk
Trotz kleiner Erfolge in der Bundeshauptstadt, den Landeshauptstädten und in Brüssel fehlen der Verkehrspolitik Kreativität und Innovationsbereitschaft. Die Angst vor dem Autovolk und seiner Mobilisierbarkeit durch die Autolobby blockiert die Entscheidungsträger. Harmloseste Reformversuche werden sofort abgebrochen, wenn "Bild", "Autobild" oder der ADAC mit seiner "Motorwelt" husten.
Autoindustrie umsatzstärkste Branche
Die Autoindustrie ist mit einem Jahresumsatz von 207 Mrd. Euro die größte Branche des Verarbeitenden Gewerbes.
BSE-Krise im Verkehr
Wir brauchen eine BSE oder MKS-Krise im Verkehr, damit der Denkstau aufhört. Denn an den "normalen" Katastrophenalltag auf den Straßen - mit seinen Opfern (Tote, Schwerverletzte, chronisch Kranke, Bewegungsarme, Schlaflose), seiner asphaltierten Landschaft, seinen immensen Infrastruktur- und Betriebskosten, seinen explodierenden Folgekosten für ruinierte Städte, kaputte Umwelt, seinen massiven Mobilitätsbeschränkungen für Fußgänger, Radfahrer und Busse und Bahnen, aber auch seinen fortschreitenden Ineffizienzen auf verstopften Straßen und Parkplätzen haben sich alle gewöhnt.
Ihn hält die Mehrzahl der Akteure in Politik, Planung, Wissenschaft, Medien, aber auch der Mehrzahl der Bürgerinnen für unabänderlich und verdrängt und bagatellisiert ihn dementsprechend. Vorstöße gegen den absurden Autoverkehr gelten als unschicklich, ideologisch, hysterisch, man mag sie nicht mehr hören.
Die Themen sind schon lange von der politischen Agenda abgesetzt, natürlich immer auch mit dem Hinweis, das sei inzwischen gar nicht mehr so schlimm (z.B. wegen der deutlich geringeren Zahl an Verkehrstoten), man habe ja etwas unternommen (z.B. mit der Gurtpflicht, dem Air Bag, oder mit der Einführung des KAT, mitbleifreiem Benzin ...). Die Illusion wird immer noch geschürt, deutsches Autoland sei im großen und ganzen in Ordnung.
Mehr Straßen = mehr Staus
Trotzdem wird natürlich auf der anderen Seite unter dem Druck von ADAC, Bauindustrie und Autolobby weiter heftig über zunehmende Staulängen, Stauzeiten und Staukosten lamentiert und daraus die Notwendigkeit für einen wieder sehr viel stärkeren Straßen- und Parkplatzbau abgeleitet.
Schon reagiert die hilflose Politik mit einem neuen Antistauprogramm, als ob nicht schon seit 40 Jahren in den Verkehrsinvestitionen von Bund, Ländern und Gemeinden permanente Anti-Stau-Übungen betrieben worden wären, mit dem paradox-zwangsläufigen Resultat von immer mehr Stau. Neue Straßen und Parkplätze führen nie aus dem Stau, sondern sind nur Schritte, die zu weniger Autoverkehr führen.
Falsche Kostenwahrnehmung
Ein zentrales Problem ist die völlig falsche Kostenwahrnehmung. Daß der Autoverkehr galoppierende Kosten verursacht, die bei weitem nicht von den klassischen Einnahmen der autoverkehrsbedingten Steuern und Abgaben gedeckt werden, wird in der öffentlichen Diskussion meist ausgeklammert (weil z.B. nur die Straßenbaukosten von Bund- und Ländern, nicht aber die der Kommunen berücksichtigt werden und weil die Parkraumkosten völlig außen vor bleiben).
Über Geld und Finanzierungsprobleme und vor allem über sog. "Defizite" klagt man nur beim öffentlichen Verkehr und bei der Bahn. Die Anschaffung von 10 Niederflurmidibussen für ca. 1 Mio. Euro oder von 20 Ruf-Mobilcars für 0,4 Mio. Euro gilt vielen Bürgermeistern als unbezahlbar, während sie gleichzeitig locker eine neue Ortsumgehung für 12,5 Mio. Euro oder gar einen Straßentunnel für 50 Mio. Euro und ein Parkhaus für 9 Mio. Euro fordern und auch für bezahlbar halten.
Straßen verursachen Staus
Gegen Verkehrsüberlastung helfen auch zusätzliche Strassen nichts. Das ergab eine US-Studie. Die Reisezeiten haben sich in den letzten 20 Jahren verdoppelt.
23 Euro für ÖPNV, 375 Euro fürs Auto
Auch die Bürger nehmen die Kosten verzerrt wahr: 375 Euro monatlich zahlt ein durchschnittlicher Arbeitnehmerhaushalt für sein Auto (Betrieb und Fixkosten), ohne das für besonders teuer zu halten. Der durchschnittliche Betrag von 23 Euro im Monat für den öffentlichen Verkehr gilt dagegen als sehr teuer (Ergebnisse des Mikrozensus).
Dieses Ausgabenverhältnis umzudrehen, die 375 Euro für das Auto neu zu verteilen, etwa 50 Euro pro Monat für Nachbarschaftsautos, Pfandautos und Taxieinsatz auszugeben, 225 Euro für den neuen, optimierten öffentlichen Verkehr (einschließlich Gepäckservice) auszugeben und den Rest produktiver als bisher außerhalb des Verkehrssektors zu verwenden, das würde genug Geld in die Kassen bringen (zehnmal mehr als heute), um den Quantensprung an räumlicher und zeitlicher Verfügbarkeit und Servicequalität im ÖPNV zu finanzieren.
Autokult und Autokultur
Für das Verkehrsverhalten ist neben der Qualität der Infrastruktur das kulturelle Umfeld der Verkehrsmittel, also ihre psychologische "Bedeutungshaut", ihr Image- und Prestigewert, mindestens ebenso wichtig.
Seit Jahrzehnten betreiben die Autokonzerne mit jährlichen Milliardensummen ihr Geschäft einer psychologischen und kulturellen Überhöhung des Autos. Die jährlichen Werbeausgaben betragen über drei Milliarden Mark. Mit allen Finessen einer vielfach auch sexistisch-erotischen Inszenierung platzieren sie ihre Produkte in Kopf und Herz oder Bauch, besetzen wichtige Schlüsselbegriffe moderner Gesellschaften ("Liebe geht durch den Wagen").
Vergleichbare Anstrengungen, die Image- und Servicequalität des Umweltverbundes und seine kulturelle Bedeutung zu fördern, seinen Prestigewert und Nutzwert zu steigern, gibt es nicht.
Die Verkehrswende
Eine wirkliche Verkehrswende muß den schrittweisen Ausstieg aus der Autogesellschaft und ihrer Massenmotorisierung ermöglichen, ohne deswegen den Autoverkehr ganz abzuschaffen. Aber seine Rolle als Nummer eins im Verkehrssystem muss sich ändern. Er erhält die Restaufgabe für die kleinen, verstreuten Ströme, wo die modernen Effizienzsysteme an ihre ökonomischen und ökologischen Grenzen stoßen.
Der Umweltverbund wird die Hauptstütze der Mobilität. Fußgängerverkehr und Fahrradverkehr werden im Nahbereich zum Maximum ihrer Leistungsfähigkeit gebracht. Busse und Bahnen tragen im Bereich der mittleren und großen Entfernungen die Hauptlast der Mobilität, aber auch im Kurzstreckenbereich werden sie sehr viel attraktiver.
Siedlungs- und Wirtschaftsentwicklung besinnen sich auf urbane Traditionen der kompakten Siedlung. Kosten für Straßenbau und Parkraumbau können gespart werden. Dafür müssen Zukunftsinvestitionen in die Effizienzsysteme geleistet werden.
In einem ersten Schritt könnte eine Verkehrswende (entsprechend dem vom Öko-Institut gerechneten Szenario "neue Arbeit durch eine Verkehrswende") in etwa den heutigen Fahrradanteil der Niederlande und den derzeitigen ÖPNV-Anteil der Schweiz erreichen.
Da aber weder in Holland, noch in der Schweiz die Probleme des Autoverkehrs wirklich gelöst sind und es auch dort viele volle Autobahnen und Autoprobleme in den Städten gibt, müsste darüber hinaus eine noch weitergehende Abkehr von der Massenmotorisierung angestrebt werden.
Vier Millionen Autos im Car-Sharing und als Nachbarschafts- und Pfandauto sowie als Taxi reichen aus, die "kleinen Ströme" abzuwickeln. Hinzu kämen etwa eine Millionen weitere "Taxi-Busse und Bürger-Busse", also bedarfsgesteuerte Kleinbusse, die vor allem im ländlichen Raum die Feinerschließung leisten, weitere 20.000 neue Regionalbahnen, etwa 10.000 neue Straßen-und Stadtbahnen, etwa 400.000 neue Niederflurbusse für die Stadt- und Ortsbussysteme.
Hinzu kämen auch etwa 20.000 neue Mobilitätszentralen, die - gleichmäßig übers Land verteilt und mit einheitlicher Nummer für Telefon und Internet - intelligentes Mobilitätsmanagement ermöglichen.
So werden die verkehrlichen Relevanzschwellen überschritten, um wirklich gravierende Marktreaktionen auszulösen.
Höhere Benzinpreisebremsen Verkehr
Das ifo-Institut hat festgestellt, daß der PKW-Bestand 2000/ 2001 zunahm, die Autos aber öfter in der Garage blieben.
Die durchschnittliche Fahrleistung ging gegenüber dem Vorjahr um 2,8 % zurück. Grund dafür sind die gestiegenen Spritpreise.
Gewinnfreude statt Verzichtsethos
Man muß die Verheißungen modernen Mobilitätsmanagements, fortschrittlicher Fahrzeugtechnik, kultivierten Service, hoher Effizienz und Wirtschaftlichkeit sowie guter Umweltverträglichkeit für die Verkehrswende reklamieren.
Bevor das Auto kam, schufen Ingenieure, Techniker und Psychologen die Kathedralen des Fortschritts mit ihren Eisenbahnen, ihren kühnen Viadukten und bombastischen Bahnhöfen, mit lustvoller Inszenierung von Modernität und Lebensgefühl.
Und es gab viele "Lüste" um den öffentlichen Verkehr: Rennen zwischen den Zügen, Rekordfahrten, mystische Überhöhungen wie beim Orientexpreß oder Rheingold. Literatur, Theater, Kunst und Film bedienten sich "aus vollen Zügen". Der Gewinn, nicht der Verzicht, sollte im Vordergrund stehen.
Die Verkehrswende schafft Platz für Millionen von Bäumen, für neue Grünflächen, für Freiheit vom Verkehrslärm, für schöne Straßen mit Alleen, für ökologische Qualität in der Stadt. Das "Grün" kommt zurück in die Städte, die wieder drinnen "Wohnen im Grünen" möglich machen. Platz bleibt auf den Straßen für den Fahrradverkehr und den Fußgängerverkehr, für den "aufrechten Gang". Platz bleibt für eine effiziente Abwicklung im öffentlichen Verkehr.
So entsteht die Basis für eine neue Stadtkultur jenseits der alltäglichen Frustrationen der Autogesellschaft: Stau, Parkplatzsuche, Verkehrsfunk, Strafzettel, Unfälle.
Die Bequemlichkeit ernst nehmen
Im Alltagsverkehr sind 80 % aller Wege und Fahrten (im Personen- wie im Güterbereich) Nahverkehr. Die längsten Wege und Fahrten haben wir in den Ballungsräumen in ihrem suburbanen Umland. Dort leben die "Kilometerfresser".
Auch im ländlichen Raum werden Autos primär eingesetzt, um kurze Wege zu bewältigen, die man genauso gut zu Fuß oder mit dem Fahrrad machen könnte. Vom Dorfrand zum Laden oder zum Kindergarten oder zu Bekannten wird gewohnheitsgemäß gefahren, zu Fuß geht man allenfalls am Wochenende für einen Spaziergang, aber auch dann fährt man am liebsten noch mit dem Wagen bis zum Waldrand oder Bachufer.
Unter diesen Umständen kann eine attraktive Alternative nur gefunden werden, wenn sie der stark gewachsenen Bequemlichkeit der Menschen Rechnung trägt. Der ÖPNV muß den Menschen viel weiter "entgegenkommen", durch viel mehr Haltestellen und kurze Wege und durch die Vermittlung des Gefühls, überall sei gleich um die Ecke ein Bus oder eine Bahn oder ein Taxi oder ein Rufbus oder Nachbarschaftsauto erreichbar.
Wer seinen potentiellen Fahrgästen 300 Meter als Normdistanz zur Haltestelle und in der Realität oft sogar 500 Meter und mehr zumutet, wird kaum begeisterte Kunden finden.
Erfolge zur Kenntnis nehmen
Mit kurzen Wegen ist im ländlichen Raum attraktiver und erfolgreicher öffentlicher Verkehr möglich. Das beweisen viele Pilotprojekte mit z.T. sensationellen Erfolgen (vgl. Lesetipps), zuerst in der Schweiz, in Österreich und Holland, inzwischen auch in einigen Pionierregionen in Deutschland.
Im Bregenzer Wald wurde ein System von Anrufbussen und Anrufsammeltaxen (James) mit modernen "Landbussen" und "Ortsbussen" sowie einer modernisierten Regionalbahn am Bodensee kombiniert.
Die Fahrgastzahlen schnellten von 30.000 auf drei Millionen.
Die Bausteine der Verkehrswende:
- Verkehrsvermeidung
- Verlagerung vom Auto auf Fahrrad, Busse, Bahn und Fußwege.
- Güterverkehr von der Strasse auf die Schiene.
- Verbesserung der Fahrzeugtechnik.
- Aufklärung und Information.
In Bregenz, Dornbirn, Götzis und Feldkirch wurden neue Stadt- und Ortsbussysteme eingeführt, verbunden durch den regionalen "Landbus" und überregionale Buslinien des "Bundesbus". Sie schafften es auf Anhieb, die Fahrgastzahlen von jeweils unter 100.000 im Jahr auf Werte zwischen zwei und fünf Millionen zu steigern, also um 2000-4000 %. Jahrzehnte lang galten dagegen im ÖPNV schon Zuwachsraten von 25% als fast unvorstellbar.
Durch modernen, kundennahen, rationellen Betrieb, neue Fahrzeuge, motiviertes Personal, offensive Werbung, attraktive Tarife und einen ehrgeizigen Marktauftritt konnten die Fahrgastzahlen um 400-1.000 % gesteigert werden.
Zentrales Erfolgsgeheimnis bei allen Pilotprojekten war eine Vervielfachung der Zahl der Haltestellen und Bahnhöfe (etwa um den Faktor 10), die Einführung eines klaren, dichten Taktverkehrs mit abgestimmten Anschlüssen im integralen Taktfahrplan und der Einsatz rationeller moderner Fahrzeug- und Logistikkonzepte.
Seither findet man in diesen attraktiven Systemen auch im ländlichen Raum etwa zur Hälfte Fahrgäste, die zwar ein oder zwei Autos haben, aber sie im Alltag in der Garage stehen lassen, weil es mit Bussen und Bahnen bequemer und schneller geht, kommunikativer ist - und Spaß macht.
Verkehrswende schafft Arbeitsplätze
Eine solche Verkehrswende hätte große Arbeitsmarkteffekte. Wenn der ganze Bereich der Verkehrslogistik in Mobilitätszentralen und die neuen Mobilitätsdienstleistungen (incl. Reiseservice mit Gepäckservice, Gastronomie, rollendes Hotel, Kommunikations-, Pflege- und Gesundheitsdienstleistungen, Handel) und die mobilitätsvorbereitenden Dienstleistungen in der Mobilitätsberatung und Mobilitätssteuerung hinzugerechnet werden, besteht die Chance auf mindestens eine Millionen neue Arbeitsplätze.
Lesetipps
- Über Leben ohne Auto, Herausgeber autofrei leben e.V., 131 Seiten, ökom Verlag, ISBN 3-928244-60-4
- Monheim, H.: Die Autofixierung der Verkehrspolitik. Warum die ökologische Verkehrswende bisher nicht vorankommt und wie sich das ändern ließe. In: Raum für Zukunft. Hrsg. H. Monheim, Ch. Zöpel, Essen, 1997
- Enquete-Kommission "Schutz der Erdatmosphäre": Mobilität und Klima- Wege zu einer klima-verträglichen Verkehrspolitik, Economica-Verlag 1994
- AgV-Forum 2/2000: Verbrauchererwartungen an die Verkehrspolitik, ISSN1437-2231
- Öko-Institut/VCD: Hauptgewinn Zukunft. Neue Arbeitsplätze durch umweltverträglichen Verkehr.Freiburg/Bonn, 1998
- Eine Übersicht innovativer Projekte enthält Monheim, H. u.a.:Straßen für alle. Analysen und Konzepte zum Stadtverkehr derZukunft. Hamburg, 1991
- Monheim,H.: Strategien für eineneue Verkehrspolitik.In: UVP report, H.2, 1999