Täglich 70 Stromsperren in Lübeck
Auf Teelichten die Suppe wärmen - für die Zubereitung der Babynahrung um heißes Wasser in der Nachbarschaft bitten - 81-jährige, gehbehinderte alte Dame ohne Strom und Heizung … lauter bedauerliche Einzelfälle? Nein. Ein Bericht aus der bundesdeutschen Stromversorgungswirklichkeit von Gunhild Duske.
(15. März 2006) - Rigoros gehen die Stadtwerke Lübeck zur Zeit gegen Kunden mit Zahlungsrückständen vor. Zwölf Millionen Euro an Außenständen haben sich angesammelt. Ein hausgemachtes Problem: Ein Jahr lang haben die Stadtwerke mit ihrer eine Million teuren neuen Abrechnungs-Software gekämpft und konnten monatelang keine Mahnungen verschicken. Dadurch hat sich die Altschuldenlast vieler finanziell schwacher Kunden angesammelt. Jetzt verschickte der Versorger 14.000 Mahnungen.
Kein Gratisstrom
"Natürlich muss jeder für die Dienstleistungen Strom und Wärme, die er/sie in Anspruch nimmt, zahlen", sagt Gunhild Duske aus der Regionalgruppe Lübeck des Bundes der Energieverbraucher. Aber in Zeiten von Hartz IV und wachsender Arbeitslosigkeit sind viele Menschen finanziell überfordert und schaffen es nicht, ihre monatlichen Abschlagszahlungen pünktlich zu entrichten. Aber nicht nur Menschen, die Grundsicherung, ALG II oder laufende Hilfen vom Sozialamt beziehen, sind betroffen, sondern auch Menschen, deren Einkünfte knapp oberhalb der gesetzlichen Bedürftigkeitsgrenze liegen.
Keine Härtefallregelung
Gunhild Duske verhandelte gemeinsam mit den Vertretern der Sozialberatungsstellen mit den Stadtwerken (EWL) über mögliche Härtefallregelungen, zum Beispiel Münzautomaten, Vorauszahlungen oder Ähnliches.
Die Stadtwerke, zu 74,9 Prozent im Eigentum der Stadt, beharrten auf der "brutalstmöglichen" Linie: Nach zwei Mahnungen folgt die Liefersperre! Das bedeutete für viele Menschen nicht nur Dunkelhaft, sondern auch eine kalte und mit sinkenden Temperaturen immer frostigere Wohnung!
Dramatische Notsituationen
Eine krebskranke Frau, die regelmäßig warme Sitzbäder nehmen muss, lebte mit ihren beiden Söhnen bereits fünf Monate ohne Strom und somit ohne warmes Wasser. Die Suppe wärmte sie auf einem Tablett mit Teelichten, wenn das Geld für den Schnellimbiss nicht reichte. Der Lübecker Energiestammtisch hat ihr durch energische Briefe an die Stadtwerke und den Sozialdezernenten helfen können. Aber es gab noch viele andere Betroffene, die bei der Regionalgruppe Rat suchten. Bei der jährlich stattfindenden Einwohnerversammlung am 1. November haben wir einen Antrag gestellt: Stadtwerke und Stadtverwaltung sollen eine Härtefallregelung umsetzen.
Dieser Antrag wurde einstimmig angenommen. Weitergeleitet an die Bürgerschaft (Stadtrat) wurde er mit überwältigender Mehrheit abgeschmettert. Gemeinsam mit Sozialberatungen und kirchlicher Unterstützung konnte wenigstens ein "Weihnachtsfrieden" errungen werden.
1.200 Haushalte ohne Strom
Nach dem Ende des "Weihnachtsfriedens" kam es faustdick und eiskalt: täglich bis zu 70 Stromsperren! Das auch in einer Woche, in der in Lübeck die Temperaturen auf -10 bis -16 Grad absanken! Inzwischen sind mindestens 1.200 Haushalte ohne Strom. Alte, Kranke, Behinderte und Kinder, ohne Ausnahme wurde rigoros vorgegangen. Mit Hilfe der Presse und weiteren Bürgerschaftsanträgen seitens der Grünen kam endlich Bewegung in die Sache. Die Bürgerschaftsfraktionen übertrumpften sich gegenseitig an plötzlich erwachtem Verantwortungsgefühl. Aber die schlechtestmögliche Variante (der CDU) erhielt die Mehrheit: "Die Verwaltung wird beauftragt …" Sowas kann dauern. Währenddessen steht den Lübeckern die nächste Kältewelle bevor.
Sozialsenator handelt endlich
Das intensive Medieninteresse und unser öffentlicher Druck hat aber den Sozialsenator zum Handeln getrieben: Er habe ja gar nichts von der dramatischen Entwicklung gewusst, aber nun würden ab Montag einige Sperren aufgehoben und eine Hotline für diejenigen Menschen eingerichtet, die nicht ALG II oder Sozialhilfe bekommen.
Vielleicht wird dann auch endlich Frau S. geholfen, die 81-jährig und gehbehindert seit Tagen in ihrer kalten Wohnung ohne Licht, warmes Wasser oder warmes Essen aushalten muss.
Die Lübecker Regionalgruppe bittet die Mitglieder des Bundes der Energieverbraucher um Informationen, wie andere Versorger Liefersperren und Mahnwesen (Kosten) handhaben. Kontakt: info@energieverbraucher.de.