Deutschland steht vor der Herausforderung, seinen Strommarkt für 100 % erneuerbare Energien umzugestalten. Die Hauptaufgaben dabei sind die Integration schwankender Energiequellen, die Gewährleistung der Versorgungssicherheit und die Schaffung von Investitionsanreizen.

Strommarkt demokratisieren

Deutschland steht vor der Herausforderung, seinen Strommarkt für 100 % erneuerbare Energien umzugestalten. Die Hauptaufgaben dabei sind die Integration schwankender Energiequellen, die Gewährleistung der Versorgungssicherheit und die Schaffung von Investitionsanreizen.
Von Aribert Peters

(21. Januar 2025) Stellen Sie sich vor, Sie stehen vor einem riesigen Puzzle. Jedes Teil repräsentiert einen Aspekt des Energiesystems: Windparks, die mal mehr, mal weniger Strom liefern; Solaranlagen, die nachts schlafen; Industrieanlagen, die rund um die Uhr laufen. Wie fügt man das alles sinnvoll zusammen? „Es ist, als würden wir versuchen, ein Flugzeug im Flug umzubauen“, erklärt Anna Schmidt, Energieexpertin an der Technischen Universität München. „Wir können nicht einfach den Stecker ziehen und neu anfangen.“

Die Herausforderungen sind gewaltig: Wie speichert man Strom für windstille, bewölkte Tage? Wie motiviert man Unternehmen, in teure neue Technologien zu investieren? Und wie verhindert man, dass die Lichter ausgehen, wenn der Wind nicht weht? Welche Rolle können dezentrale Preissignale und örtliche Verbünde von Stromerzeugern und Verbrauchern spielen? Der Strommarkt: Die Strombörse und die Verträge regeln die Geldflüsse. Noch wichtiger jedoch sind die physikalischen Stromflüsse über die Netze. Wer garantiert, dass zu jeder Sekunde die Stromerzeugung genau dem Stromverbrauch entspricht bei Millionen von Verbrauchern und Erzeugern?

Die derzeitige Marktstruktur hat sich für eine Versorgung auf der Basis von Großkraftwerken gut bewährt. Für eine fluktuierende dezentrale Erzeugung muss das System völlig neu zusammengesetzt werden.

Marktstruktur für eine dezentrale Stromerzeugung

Experten diskutieren verschiedene Marktmodelle:

  • Pay-as-Clear (aktuelles System, auch Merit-Order-System genannt): ein Preisbildungsverfahren im Strommarkt, bei dem alle Anbieter den Preis des teuersten noch benötigten Kraftwerks erhalten, unabhängig von ihren individuellen Geboten
  • Pay-as-Bid: ein alternatives Preisbildungsverfahren, bei dem jeder Stromanbieter genau den Preis erhält, den er geboten hat 
  • Kapazitätsmärkte: ein Marktmodell, bei dem Kraftwerksbetreiber nicht nur für produzierten Strom, sondern auch für das Vorhalten von Erzeugungskapazität vergütet werden

Ein Kernpunkt ist die Flexibilisierung von Angebot und Nachfrage. Dafür sind Anreize für flexible Erzeuger, Speicher und Verbraucher nötig. Auch der Netzausbau, die saisonale Speicherung der sommerlichen Stromüberschüsse und die Verbindung von Wärme- und Stromversorgung spielen eine wichtige Rolle.

Die EU hat im Juli 2024 eine Richtlinie zur Reform des Strommarktdesigns beschlossen. Sie zielt darauf ab, den Strommarkt stabiler, erschwinglicher und nachhaltiger zu gestalten, wobei der Fokus auf dem Ausbau erneuerbarer Energien und dem Verbraucherschutz liegt. Das deutsche Preisbildungssystem entspricht den Vorgaben der Richtlinie.

Seit 2023 tagt eine Diskussionsplattform „Klimaneutrales Stromsystem“ (DKNS), initiiert vom Bundeswirtschaftsministerium. In ihrem Ergebnisbericht schlägt sie ein neues Marktdesign für ein klimaneutrales Stromsystem vor, das auf eine Kombination aus wettbewerblichen Elementen und staatlicher Steuerung baut, um Versorgungssicherheit zu gewährleisten, Kosten zu minimieren und die Integration erneuerbarer Energien zu fördern.

Aktuelle Studien des Fraunhofer ISE und auch der Deutschen Energie-Agentur (Dena) und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zeigen, dass ein vollständig erneuerbares Energiesystem insbesondere mit dezentralen Komponenten technisch machbar und ökonomisch vorteilhaft ist – und weniger Netzausbau erforderlich wäre. Es erfordert jedoch signifikante Anpassungen des aktuellen Marktdesigns. 

Dezentralität und Bürgerbeteiligung

Bis 2045 wird, so die politische Festlegung, unsere Energieversorgung und auch Stromversorgung vollständig auf erneuerbaren Energien basieren. Damit wird sie dezentral, örtlich, überall und nahe an den Verbrauchern sein. Das bringt wirtschaftliche Vorteile, eine höhere Sicherheit und auch mehr Bürgerbeteiligung, also Demokratie. Aber auch das neue Design der Strommärkte muss dem entsprechen, also nicht nur das schwankende Angebot und die saisonale Speicherung berücksichtigen, sondern auch die Dezentralität.

Entsprechende technische Konzepte sind Smart Grids, zelluläre Netze. Auf der Verbraucherseite spricht man von Energy Sharing: Gruppen von Verbrauchern erzeugen und verbrauchen den Strom zumindest teilweise. Auf der kaufmännischen Seite spricht man von Peer-2-Peer-Ansätzen, kurz P2P: Stromerzeuger und -verbraucher handeln direkt miteinander, ohne zentrale Zwischeninstanzen wie Energiebörsen oder traditionelle Energieversorger. Jeder kann sowohl Produzent als auch Konsument sein, daher der Begriff „Prosumer“. Der Handel findet oft in Nachbarschaften, Quartieren oder kleinen Gemeinschaften statt. Dieser Ansatz stellt große und komplexe rechtliche und regulatorische Anforderungen bei seiner Umsetzung. 

Weniger Netzausbau durch Dezentralität

Die Deutsche Energie-Agentur hat im Oktober 2023 in einer Studie die Marktintegration dezentraler Verbrauchs- und Erzeugungseinheiten untersucht: „Das dezentralisierte Energiesystem im Jahr 2030“. Die Studie kam zum Ergebnis, dass die Stromkosten für Verbraucher, Haushalte und Industrie um 4 bis 20 % sinken würden. Auch erhöht sich der Autonomiegrad der einzelnen Regionen um bis zu 70 %. Die Übertragungsnetze werden dadurch entlastet, lokale Netze möglicherweise stärker belastet. Es muss dann auch deutlich weniger Energie über die konventionellen Strommärkte beschafft werden. 

Eine Studie von DIW und TU Berlin zeigt: Wenn die Kosten für den Netzausbau in einem Erneuerbaren-Szenario einberechnet werden, sinkt der Bedarf an neuen Netzen erheblich und die dezentrale Energiewende wird gestärkt. Das gesamte Energiesystem wird dadurch kostengünstiger und die Energieerzeugung verlagert sich näher zu den Verbrauchern. In diesem Szenario können sich fast alle Regionen beinahe vollständig selbst mit Energie versorgen. Eine detaillierte Analyse zeigt, dass die Versorgungssicherheit auch in kalten Winterwochen gewährleistet ist. Zwar bleibt der Netzausbau eine wichtige Möglichkeit, das System flexibler zu machen, doch die bisherige Vernachlässigung der Netzkosten begünstigt übermäßig zentrale Stromquellen wie Offshore-Windanlagen.

Gemeinschaftsprojekt Bürgerbeteiligung

Dezentrale Energie ist nicht nur Technik – es ist ein Gemeinschaftsprojekt. Bürger haben die Möglichkeit, sich über Genossenschaften und lokale Projekte aktiv einzubringen. Was wäre, wenn Sie nicht nur Konsument, sondern Mitgestalter der Energiewende wären? Diese Beteiligungsmodelle schaffen Arbeitsplätze und erhöhen darüber hinaus auch die Akzeptanz für erneuerbare Energien, da Menschen direkt davon profitieren. Die Energiewende wird damit zur echten Bürgerbewegung. 

Energie-Demokratie

Dezentralisierung steht für die Rückgewinnung der Kontrolle über die Energieversorgung. Anstatt große Energiekonzerne zu fördern, gibt sie lokalen Akteuren die Macht zurück. Stellen Sie sich ein Netz aus vielen kleinen, unabhängigen Energiequellen vor, das flexibel und widerstandsfähig auf Veränderungen reagiert. Um dieses Potenzial zu entfalten, sind politische Maßnahmen notwendig, die Eigeninitiative und regionale Projekte gezielt fördern. So entsteht eine Zukunft, in der jeder und jede die Möglichkeit haben, ein Teil der Energie-Demokratie zu sein und die Wende aktiv mitzugestalten. Ein ansteckendes und erfolgreiches Beispiel gab Michael Sladek in Schönau.

 ED 04/2024 Strommarkt demokratisieren (S.10/11) 

Der Stromrebell Michael Sladek hat mit seinen Mitstreitern das Stromnetz im Schwarzwaldort Schönau in Bürgerhand übernommen und damit ein Beispiel für die Demokratisierung der Energieversorgung vorgelebt.

Gesetzentwurf der Regierung

Die Bundesregierung hat wichtige Schritte zur Umgestaltung und Stabilisierung der Strommärkte in einem 300-seitigen Gesetzentwurf zusammengefasst und wollte diese Regelungen schon zum Beginn des Jahres 2025 in Kraft treten lassen. Der Vorschlag enthält viele positive Elemente und ist in anderen Teilen hochgradig umstritten. Fraglich bleibt, ob der Gesetzentwurf in seiner jetzigen Form auch in einer neuen Regierung Bestand haben wird.  

  • Das dezentralisierte Energiesystem im Jahr 2030 (Dena, Oktober 2023): www.bdev.de/denadez
  • Dezentrale Konzepte sparen Netzkosten (DIW, TU Berlin, 2021): www.bdev.de/diwdez
  • Versorgungssicherheit im Bereich der Versorgung mit Elektrizität (Bundesnetzagentur, Januar 2023): www.bdev.de/bnetsicher
  • Feststellung des Bedarfs an Netzreserve für den Winter 2024/2025 sowie den Betrachtungszeitraum April 2026 bis März 2027 und zugleich Bericht über die Ergebnisse der Prüfung der Systemanalysen (Bundesnetzagentur, 30. April 2024): www.bdev.de/bnetres
  • Handlungsempfehlungen der Bundesregierung zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit mit Elektrizität (Deutscher Bundestag, Drucksache 20/5555): www.bdev.de/btsicher
  • Strommarktdesign der Zukunft (BMWK, August 2024): www.bdev.de/dknspapier

letzte Änderung: 22.01.2025