ED 02/10

Die Seiten gewechselt

Hans-Peter Scheerer engagiert sich seit 20 Jahren sowohl im Bund der Energieverbraucher als auch im Verein "Energiewende" in Rüsselsheim. Seit zweieinhalb Jahren ist er Geschäftsführer der Stadtwerke Rüsselsheim und sieht die Dinge nun aus einer anderen Perspektive. Wir sprachen mit ihm.

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Hans-Peter Scheerer -- Geschäftsführer der Stadtwerke Rüsselsheim

Energiedepesche: Sie kommen von der Energiewendegruppe und sind jetzt Stadtwerkchef. Sie haben also die Seiten gewechselt. Was Sie früher gefordert haben, müssen Sie nun umsetzen. Wie fühlen Sie sich dabei?

Hans-Peter Scheerer: Gut, weil aktiv. Früher sind wir oft gescheitert und wurden durch die Verantwortlichen blockiert. Jetzt kann ich aktiv die Anliegen umsetzen. Das erfüllt mich mit Zufriedenheit.

Energiedepesche: Ist die Übernahme des Stromnetzes in Rüsselsheim auch Ergebnis Ihrer Aktivitäten?

Hans-Peter Scheerer: Zum Teil mag das zutreffen. Die Zeiten haben sich geändert. Energiefragen werden heute anders wahrgenommen als noch vor 20 Jahren. Zum Wandel des Meinungsbildes haben wir sicherlich auch beigetragen.

Energiedepesche: Was waren Ihre Ziele im Verein Energiewende?

Hans-Peter Scheerer: Die rationelle Energieverwendung, die Einführung erneuerbarer Energien und der Ausstieg aus der Kernenergie.

Energiedepesche: Was haben Sie nun als Stadtwerkschef diesbezüglich konkret erreicht?

Hans-Peter Scheerer: Ich bin seit zweieinhalb Jahren in der Verantwortung. Wir haben seitdem eine Abteilung aufgebaut, die sich mit Energiedienstleistungen befasst, also im Wesentlichen rationeller Wärmeerzeugung in Blockheizkraftwerken und erneuerbaren Energien. Wir bieten regelmäßig eine kostenlose Energieberatung von externen Energieberatern an. Wir zertifizieren Niedrigenergiehäuser und haben kleine Nahwärmenetze aufgebaut. Es ist also einiges passiert.

Energiedepesche: Die Stadtwerke haben Anfang 2009 das Stromnetz übernommen. Welche Vorteile haben die Kunden davon?

Hans-Peter Scheerer: Die Energielieferverträge und die Netzentgelte haben sich nicht verändert.
Bei Störungen gibt es jedoch für die Bürger jetzt einen Ansprechpartner vor Ort. Das schätzen die Verbraucher. Der Service diesbezüglich ist besser geworden. Insgesamt hat sich für die Verbraucher kaum etwas verändert.

Energiedepesche: Wem gehören die Netze nun?

Hans-Peter Scheerer: Banken haben den Netzkauf finanziert. Die Netze gehören jetzt der Gasversorgung Rüsselsheim, einer Tochter der Stadtwerke.

Energiedepesche: Wie sieht das Betriebsergebnis aus?

Hans-Peter Scheerer: Die Anreizregulierung hat alles viel komplizierter gemacht. Seit 2009 muss man sich nicht nur über den Kaufpreis einigen, sondern auch über die Aufteilung der Netzentgelte. Das wird künftige Netzkäufe deutlich erschweren.
2006 hatten wir ein negatives Ergebnis im Gasvertrieb. Der warme Winter hat das Ergebnis kaputt gemacht. Bisher erzielten wir mit dem Gasnetz ein Ergebnis deutlich unter einer Million Euro, was einer Eigenkapital-Rendite von unter sechs Prozent entspricht. 2007 lief der Gasvertrieb besser mit einem knapp positiven Ergebnis. Diese Zahlen sind nicht geheim, denn die Abschlüsse müssen offen gelegt werden.

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Das örtliche Stromnetz gehört in Rüsselsheim wieder der Gemeinde

Energiedepesche: Gibt es ein Energiemonitoring öffentlicher Gebäude in Rüsselsheim?

Hans-Peter Scheerer: Die Stadt hat dafür zu wenig Personal. Wir sehen es durchaus als unsere Aufgabe an, die Stadt dabei zu unterstützen. Dafür haben wir auch ein Konzept entwickelt. Dort gibt es noch einiges zu tun. Das würden wir gerne anpacken.

Energiedepesche: Wie steht es mit der Straßenbeleuchtung?

Hans-Peter Scheerer: Wir haben die Beleuchtung mit dem Stromnetz übernommen und uns gegenüber der Gemeinde verpflichtet, in den kommenden zehn Jahren den Stromverbrauch der Straßenbeleuchtung um 20 Prozent zu vermindern. Deshalb investieren wir derzeit in den Austausch alter Leuchten.

Energiedepesche: Wo kaufen Sie Gas ein?

Hans-Peter Scheerer: Bis 2007 waren wir über einen klassischen Vollversorgungsvertrag an einen Lieferanten gebunden, die Kraftwerke Mainz-Wiesbaden. Der Vertrag wurde gekündigt und der Gasbezug ausgeschrieben.
Seit vergangenen Oktober sind wir in die strukturierte Beschaffung eingestiegen. Wir kaufen unser Gas bei freien Händlern. Das läuft über einen Dienstleister, die Südweststrom Tübingen. Es gibt also keinen einzelnen Gasbezugsvertrag mehr, sondern eine ganze Reihe von Verträgen. Jeder dieser Verträge beinhaltet einen Lieferzeitraum, die Liefermenge und den Preis. Weil die Verträge einzeln einen festen Gaspreis beinhalten, gibt es keine Ölpreisbindung. Dennoch ist der Preis bei Vertragsabschluss vom Ölpreis abhängig.
Für 2009 haben wir schon alle Bezugsverträge abgeschlossen, für 2010 und 2011 sind Teilmengen bestellt.

Energiedepesche: Woher wissen Sie, welchen Brennwert das den Kunden gelieferte Gas hat?

Hans-Peter Scheerer: An den Einspeisepunkten des vorgelagerten Gasnetzes stehen Analysestationen, die den Brennwert ständig erfassen. Kritisch nachfragenden Verbrauchern zeigen wir auch gerne die Messprotokolle. Wir machen aus diesen Dingen kein Geheimnis.

Energiedepesche: Wo kaufen Sie Strom ein?

Hans-Peter Scheerer: Wir handeln nicht mit Strom, wir betreiben lediglich das Stromnetz. Wir haben mit dem Netz keinen einzigen Kunden übernommen. Grundversorger in Rüsselsheim ist die RWE-Tochter Eprimo. Das Stromnetz gehörte vor einigen Jahren dem Überlandwerk Groß-Gerau, einer 50-Prozent-Tochter von RWE. Eprimo war eine Tochter der Überlandwerke Groß-Gerau und wurde später vollständig von RWE übernommen.

Energiedepesche: Wollen Sie die Grundversorgung für Strom übernehmen?

Hans-Peter Scheerer: Entsprechende Überlegungen gibt es, aber derzeit sind wir noch zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt. Um unsere Bürger mit Strom zu versorgen, hätten wir das Stromnetz nicht kaufen müssen. Die Trennung von Netzbetrieb und Stromverkauf haben die meisten Verbraucher noch nicht verstanden.

Energiedepesche: Wie viel Geld können Sie mit dem Stromnetz verdienen?

Hans-Peter Scheerer: Unser Geschäftsplan prognostiziert einen Gewinn, der zu einer Eigenkapitalrendite von fünf bis sechs Prozent führt. Die Regulierung belastet uns mit hohen Kosten und beschränkt auch unsere Gewinne. Ein reines Gasnetz ist wirtschaftlich nur schwer zu betreiben. Wenn man ein Stromnetz dazu hat, rentiert sich die Infrastruktur für den Netzbetrieb wesentlich besser. Synergien gibt es auch bei Hausanschlüssen und beim Verlegen von Leitungen. Durch die Anreizregulierung haben wir höhere Aufwendungen und geringere Erträge.
Wir haben ein paar kleine KWK-Anlagen in der Stadt. Ein Ausbau würde sich nur lohnen, wenn wir auch Abnehmer für die Wärme haben. Wir haben einige kleine Nahwärmeinseln in der Stadt, zum Beispiel in Neubaugebieten, wo wir mit den Bauträgern einig wurden.

Energiedepesche: Gibt es Verbraucher in Rüsselsheim, die selbst Strom herstellen?

Hans-Peter Scheerer: Das betrifft fast ausschließlich Photovoltaik. Wir haben rund 230 PV-Anlagen im Netzgebiet und zwei private KWK-Anlagen. Wir kümmern uns um diese Leute, machen Informationsveranstaltungen für sie und erklären ihnen technische und wirtschaftliche Grundlagen. Dabei entsteht auch ein Informationsaustausch.
Die Abwicklung der Einspeisung ist eine ideelle Aufgabe. Geld bekommt man dafür nicht. Wir beraten dennoch die Interessenten, was zu tun ist, um eine eigene Anlage ans Netz zu bekommen. Wir stehen dabei noch am Anfang. Wir bauen das Know-how dafür auf und haben Mitarbeiter dafür eingestellt, damit feste Ansprechpartner zur Verfügung stehen.

Energiedepesche: Wie sieht Ihre Notfallplanung aus, falls mal das Stromnetz zusammenbricht?

Hans-Peter Scheerer: Wir haben kein galvanisch getrenntes Netz, das man unabhängig betreiben kann. Darauf haben wir verzichtet, weil das den Kaufpreis nach oben getrieben hätte. Wir sind daher auf den vorgelagerten Netzbetreiber angewiesen und können keine eigenen Maßnahmen ergreifen. Die aktuelle Notfallplanung für das vorgelagerte Netz kenne ich nicht.
Wir haben auch über Dienstleistungsverträge nur ganz begrenzte mobile Notstromkapazitäten. Damit können wir die öffentliche Versorgung nicht aufrechterhalten. Diese Notstromaggregate können so lange betrieben werden, wie der Sprit reicht. Da zu den Stadtwerken auch die Verkehrsbetriebe gehören, haben wir eigene Tanks mit rund 60.000 Liter.
Eine gesetzliche Verpflichtung für Notfallpläne ist mir nicht bekannt. Bei der Gasversorgung gibt es auch nur die Verpflichtung, Störungen zu melden. Eine Katastrophenplanung machen die Gebietskörperschaften, also bei uns der Landkreis. Die Koordination bezieht sich aber hauptsächlich auf Trinkwasser.

Energiedepesche: Wie viele Gassperren gibt es bei Ihnen?

Hans-Peter Scheerer: Wir haben etwa 11.000 eigene Gaskunden. Etwa 15 Prozent von ihnen haben von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, den Gasanbieter zu wechseln. Wir haben viele hundert Ratenzahlungsvereinbarungen mit Verbrauchern. Wir haben relativ oft Kunden, die mal in die Klemme sitzen. Die holen wir dann mit Ratenzahlungsvereinbarungen wieder zurück. Im letzten Jahr hatten wir ca. 200 Gassperren.

Energiedepesche: Prüfen Sie vor einer Sperre, ob ein Härtefall vorliegt?

Hans-Peter Scheerer: Vor Weihnachten oder an Freitagnachmittagen führen wir keine Sperren durch, damit die Leute die Gelegenheit haben, die ausstehenden Beträge zu begleichen. Soziale Kriterien berücksichtigen wir nicht, denn die Lebensumstände der Betreffenden sind uns nicht bekannt.

Energiedepesche: Dann könnte es passieren, dass Sie einem Schwerstkranken das Gas abstellen?

Hans-Peter Scheerer: Wir können das nicht prüfen. Wenn gesperrt wird, sind die Leute ohnehin meist nicht zuhause, da wir die Sperre vorher ankündigen müssen. Wir können keine Sozialbürokratie aufbauen, um Bedürftigkeit festzustellen. Dies gibt es bei der Stadt Rüsselsheim. Es macht keinen Sinn, das ein zweites Mal bei den Stadtwerken aufzubauen. Wenn das Sozialamt einen Problemfall meldet, nehmen wir darauf Rücksicht. Aber wir betreiben keine eigenen Recherchen.

Energiedepesche: Melden Sie bevorstehende Sperren an das Sozialamt?

Hans-Peter Scheerer: Nein.

Energiedepesche: Wie viele Kunden haben Sie, die Ihre Gasrechnung kürzen?

Hans-Peter Scheerer: Etwa zwei Dutzend Kunden zahlen nicht den verlangten Preis. Gegen einen Protestkunden haben wir prozessiert und gewonnen. Wir haben noch keinen Protestkunden gesperrt. Es gibt jedoch einige, die sind kurz vor einer Sperre stehen, weil sie gar nichts zahlen. Diese Leute bereichern sich auf Kosten anderer und werden auch gesperrt. Die anderen versuchen wir noch zu überzeugen.

Energiedepesche: Was halten Sie von Smart Metering?

Hans-Peter Scheerer: Der derzeitige Stand ist unbefriedigend. Man wollte es allen recht machen. Das führt zu nichts. In den Niederlanden hat man es vor fünf Jahren mit einer freiwilligen Lösung versucht und hat jetzt die flächendeckende Einführung beschlossen. Wenn die Politik das auch bei uns so haben will, sollte sie dies auch so vorschreiben. Dann vermindern sich die Mehrkosten und verteilen sich auch gleichmäßig auf alle Verbraucher.

Energiedepesche: Wie sehen Sie den Bund der Energieverbraucher?

Hans-Peter Scheerer: Ich bin seit 20 Jahren Mitglied. Wir verteilen fleißig Energiedepeschen, auch wenn mir nicht immer alles gefällt, was drin steht. Der Verein erfüllt insgesamt eine wichtige Funktion und ist ein anerkannter Gegenspieler der Energiekonzerne. Der Verein zeichnet in vielen Fragen ein zu einfaches Bild und übertreibt die Dinge. Das wird der Sache nicht immer gerecht. Als Stadtwerke sind wir von dem, was der Verein erreichen will, nicht weit entfernt. Wir haben aber natürlich auch andere Interessen, denn wir müssen Geld für unseren Gesellschafter verdienen.

letzte Änderung: 14.07.2010