Japan
Aus der Katastrophe nichts gelernt
Japan kommt auch ohne Atomstrom aus, wie sich gezeigt hat. Doch die Regierung hält plötzlich wieder an der Atomenergie fest und stellt sich damit gegen die eigene Bevölkerung. Die Energiewende von unten bahnt sich dennoch auch in Japan langsam an, berichtet Christoph Neidhart.
(26. Juli 2016) Es geht nicht um die Versorgungssicherheit, wenn Japan trotz Fukushima künftig wieder auf die Kernenergie setzt – und noch weniger um den Klimaschutz. Jedenfalls nicht primär. Die Regierung von Premier Shinzo Abe rechtfertigt ihre Energiepolitik mit diesen beiden Argumenten. Sie hat aus ihrer Sicht wichtigere Gründe, warum sie möglichst viele der 48 intakten Kernkraftwerke gegen den Willen einer deutlichen Mehrheit der Japaner wieder anfahren will – und zwei Reaktoren inzwischen auch angefahren hat: Sendai I und II auf der Insel Kyushu. Den Start von zwei weiteren Reaktoren – Takahama 3 und 4; ersterer sogar mit MOX, dem Brennstoff-Gemisch aus Uran und Plutonium – hat aber ein örtliches Bezirksgericht gestoppt.
Christoph Neidhart ist Tokio-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung und des Züricher Tages-Anzeigers.
Es ging auch ohne Atomstrom
Wider Willen hat Japan längst bewiesen, dass es ohne Kernkraft – und ohne jegliche Einschränkungen seines Stromkonsums – leben kann. Zwischen September 2013 und August 2015 war kein einziger Reaktor am Netz, auch in den heißen Sommermonaten, wegen vieler Klimaanlagen die Zeit mit dem höchsten Stromverbrauch. Zudem hat Japan 2015 so wenig Strom verbraucht wie nie zuvor seit 17 Jahren. Der Bedarf der Industrie, fast die Hälfte des Gesamtverbrauchs, geht seit zwei Jahren stetig zurück.
Vom Pionier zum Nachzügler
Wie wenig es Abe ums Klima geht, hat der Premier mit der Revision der Klimaziele Japans gezeigt: Bis 2030 will Japan seinen CO2-Ausstoß um 26 Prozent reduzieren, das ist weniger, als Tokio im Kyoto-Protokoll 1997 zusagte. Wenn alle Staaten so wenig zum Klimaschutz beitrügen, würde sich die Erde bis zum Ende des Jahrhunderts um drei bis vier Grad Celsius erwärmen. Das wäre eine Katastrophe. Der Klima-Pionier und Organisator der Kyoto-Konferenz ist zu einem Nachzügler geworden, der vielleicht nicht einmal diese ungenügenden Ziele erreicht. Außerdem begünstigt die japanische Regierung mit reduzierten Zöllen Kohle gegenüber Erdgas, obwohl erstere das Klima erheblich mehr belastet. Auch nach dem Klima-Abkommen von Paris plant die Hochtechnologie-Nation Japan noch 40 neue Kohlekraftwerke und hofft dabei auf die noch wenig erprobte Technik der CO2-Speicherung.
Es geht ums große Geschäft
Als die Schweizer Präsidentin im Herbst 2012 Tokio besuchte, versicherte ihr der damalige Premier Yoshihiko Noda, Japan werde aus der Kernenergie aussteigen. Damit wollte seine damals bedrängte Demokratische Partei im Hinblick auf die bevorstehenden Wahlen dem Druck der Bevölkerung nachgeben. Allerdings hatte Noda in der gleichen Woche amerikanischen Regierungsvertretern zugesagt, Japan halte an der Kernenergie fest. Japans Ausstiegspläne hatten Washington alarmiert, denn mit Westinghouse und General Electric werden die beiden großen amerikanischen Reaktorhersteller ganz oder teilweise von japanischen Firmen kontrolliert. Westinghouse gehört Toshiba, der Kernreaktorflügel von General Electric ist eine Partnerschaft mit Hitachi. Würde Japan aus der Kernenergie aussteigen, dann würde, so fürchtet Washington, dies auch die künftigen Geschäftschancen der beiden Firmen beeinträchtigen. Und die Branchen-Führung in dieser auch militärisch wichtigen Technologie könnte an China und Russland gehen.
Japans Atomwaffenoptionen
Der einstige Verteidigungs- und heutige Regionenminister Shigeru Ishiba sagt es noch deutlicher: „Ich glaube nicht, dass Japan Atomwaffen braucht. Aber es ist wichtig, dass wir unsere kommerziellen Reaktoren behalten. Das würde uns erlauben, in kurzer Zeit Atomsprengköpfe zu bauen“, so Ishiba. „Eine stillschweigende Abschreckung.“
Am schnellen Brüter, einem längst gescheiterten Projekt für einen Reaktor der nächsten Generation, hält Tokio ebenfalls fest, um die Wiederaufbereitung zu rechtfertigen.
Premierminister mit Atomwirtschaft verbandelt
Neun der zehn regionalen Stromkonzerne in Japan verfügen über Atomkraftwerke. Wenn sie diese auf Null abschreiben und ihren Rückbau budgetieren müssten, gingen die meisten von ihnen Pleite. Das würde nicht nur die Stromversorgung gefährden, da ihre Anteile weit gestreut gehalten werden, es könnte auch die Finanzmärkte belasten. Die Wertpapiere von Tepco waren bis Fukushima das populärste Anlage-Instrument Japans; der Strommonopolist für
die Region Tokio und Betreiber von Fukushima hängt längst am Tropf des Staates, aber viele Anleger und Investitionen sitzen noch immer auf ihren Anteilen. Abe, der Japans Wirtschaft anzuschieben versucht und mit der Energiewirtschaft verbandelt ist, wird sich nie gegen die Interessen der Atomwirtschaft einsetzen.
Energiespartradition in Japan
Die Regierung von Japan war vermutlich eine der ersten der Welt, die Energiespar-Gesetze einführte. Und durchsetzte. Im 18. Jahrhundert galten in den japanischen Großstädten strenge Bauvorschriften zur Beschränkungen des Brennholz-Verbrauchs.
Im 20. Jahrhundert war Energiesparen indes kein Ziel der Politik. Während die japanische Industrie aus wirtschaftlichen Überlegungen schon vor Jahrzehnten begonnen hat, ihre Effizienz zu optimieren, warben die Elektrizitätswerke bis zur Katastrophe von Fukushima für mehr Stromverbrauch. Auch die Klimaziele von Kyoto wollten die Japaner nie mit Sparen erreichen, sondern mit immer mehr Kernenergie. Bis 2030 hätte der Anteil des Atomstroms auf 50 Prozent steigen sollen. Die Reaktoren sind, so der Mythos, absolut sicher. Dabei genügten Japans Sicherheitsnormen den internationalen Standards nicht – das tun auch die neuen, obwohl strengeren Vorschriften noch nicht, wie die Internationale Atombehörde IAEA vergangenen Januar festhielt.
Naoto Kan, Japanischer Premierminister während der Fukushima-Katastrophe:
„Was wir auf gar keinen Fall vergessen dürfen, ist die Tatsache, dass sich der Unfall von Fukushima um ein Haar ausgebreitet hätte. Dann hätten Menschen im Umkreis von 250 Kilometern evakuiert werden müssen, die Hauptstadt Tokio mit eingeschlossen. 50 Millionen Menschen, 40 Prozent der Bevölkerung Japans. Eine Katastrophe von diesem Ausmaß kann man nur mit einem großen Krieg vergleichen, den man verloren hat, oder mit etwas noch viel Schlimmeren. … Wir glaubten, dass sich ein Unfall wie in Tschernobyl in Japan niemals ereignen könne, da Japan über eine Atomtechnologie der Weltklasse verfüge. Seit dem Unfall in Fukushima wissen wir, dass Atomkraftwerke äußerst gefährlich und verglichen mit anderen Energieformen extrem teuer sind“.
Nichts gelernt aus Fukushima
Der japanische Staat hat aus Fukushima nichts gelernt, er hält an der Kernkraft fest wie am Walfang, einem anderen Anachronismus. Und begünstigt Kohle gegenüber Gas und erneuerbaren Energien. Letzteres auch, weil Kohlekraft, anders als Sonnenenergie, von den großen Stromfirmen produziert wird.
Abes Regierung hat außerdem den Einspeise-Tarif für Sonnen- und Windenergie reduziert, den ihre Vorgänger einführten. Und lässt es den Strommonopolisten durchgehen, wenn sie die Einspeisung von Sonnenstrom aus „technischen Gründen“ verweigern. Angeblich sei das Netz überfordert. In Wirklichkeit sind diese „technischen Gründe“ Versuche, Netzkapazität für die Kernenergie zu reservieren. Die beschlossene Entkoppelung von Stromproduktion und Netzbetrieb droht deshalb von der Regierung verwässert zu werden. Sie tut alles, die Elektrizitätsfirmen am Leben zu erhalten.
Wende kommt von unten
Ganz anders die japanische Bevölkerung, die Industrie und viele Gemeinden. Die Japaner haben zwar wenig Sinn fürs Energiesparen: Sie isolieren ihre Häuser nicht und lassen geparkte Autos stundenlang für die Klimaanlage laufen. Aber sie haben viel Sinn für Innovationen: Wer übers Land fährt, stößt auf immer mehr große Sonnenkollektoren und auf den Dächern von Privathäusern werden stets irgendwo Photovoltaikzellen installiert. Mit der Klimakonferenz von Paris hat das nichts zu tun, mit Fukushima und dem tiefen Misstrauen gegenüber der Zentralmacht und den mit ihr unter einer Decke steckenden Strommonopolisten dagegen viel. In Japan kommt die Energiewende von unten; und sie kommt schneller als erwartet.
Japan verpasst seine Chance
Premier Abe ruft oft und gerne dazu auf, Japan müsse wieder eine Führungsrolle in der Welt übernehmen. Kein Bereich eignet sich dazu so sehr wie die Energie-Revolution. Japans Forschung und Industrie verfügt über die nötigen Kapazitäten. Nippon war einst Marktführer der Solarenergie, Toyota der übrigen Auto-Industrie mit dem Hybrid-Antrieb anderthalb Jahrzehnte voraus. Stattdessen rutschte Tokio beim Klimagipfel in Paris unter ferner liefen. Die japanischen Medien redeten die Ergebnisse von Paris schön und die Regierung verteidigte ihre unzureichenden Klimaziele. Japan verpasst seine beste Chance der letzten Jahre.
Der Artikel ist ein leicht veränderter Nachdruck eines Artikels in der Zeitschrift Energie & Umwelt, Ausgabe 1/2016
In Tokio wird der Strom knapp
(10. Juli 2003) In Japans Hauptstadt wird der Strom knapp. Im Sommer klettert das Quecksilber bei über 90% Luftfeuchtigkeit oft auf über 37 Grad, die Klimaanlagen laufen auf Hochtouren.
Japans größter Stromlieferant Tokyo Electric Power (Tepco) hatte systematisch Berichte über Defekte an Kernreaktoren gefälscht, weshalb die Regierung alle siebzehn Tepco-KKW stilllegte, die 40% des Energiebedarfs Tokios abdecken. Nur zwei Reaktoren wurden zwischenzeitlich wieder hochgefahren.
Der Bedarf an heißen Tagen steigt auf 64,5 Mio kW, maximal stehen 62 Mio kW zur Verfügung.
Tepco begann nun mit der Veröffentlichung täglicher Stromvorhersagen: In Abhängigkeit von der Wetterlage wird über TV, Radio und Mobiltelefonnetz mitgeteilt, wie groß die Gefahr eines Stromausfalls sein wird.
Japans Kernkraftpause
(21. April 2003) Vor kurzem wurde das letzte KKW des größten japanischen Stromkonzerns Tokio Electric Power Company (Tepco), der bislang Strom zu 44% aus Kernkraft erzeugte, vom Netz genommen.
Dessen 17 KKW hat man seit Juli 2002 nacheinander abgeschaltet, nachdem bekannt wurde, dass die Sicherheitsprotokolle jahrzehntelang gefälscht worden waren, um Risse in Rohrleitungen und Reaktorbehältern zu vertuschen. Seitdem werden die Schäden untersucht. Tepco bietet als Ersatz Ölkraftwerke an.
Weil ohne die KKW an heißen Tagen ein Fünftel Leistung fehlt, rief das Unternehmen bereits zum Stromsparen auf.