Klimaschutz ist ein Menschenrecht!
Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 9. April 2024 ist ein bahnbrechender Durchbruch für den Klimaschutz in Europa. Menschen haben nach diesem Urteil einen Anspruch auf Klimaschutz durch ihre Regierungen. Das Urteil sagt auch genau, wie dieser Klimaschutz aussehen muss. Es bindet alle Länder des Europarats, also auch Deutschland.
Von Aribert Peters
(18. August 2024) Der Europarat ist Europas führende Organisation für Menschenrechte, eine Art Vereinte Nationen für Europa. Er wurde am 5. Mai 1949 gegründet und hat 46 Mitgliedstaaten mit nahezu 700 Millionen Einwohnern, darunter die 27 Staaten der Europäischen Union. Alle Mitgliedstaaten des Europarats haben die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) gezeichnet, einen Vertrag zum Schutz der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entscheidet über Beschwerden, in denen eine Verletzung dieser Menschenrechte gerügt wird.
• www.bdev.de/konvention
Der Europarat ist völlig unabhängig von der Europäischen Union, mit jeweils getrennten Institutionen wie Parlamenten und Gerichten. Lediglich die Fahne und Hymne sind nahezu identisch. Amtssprachen sind Englisch und Französisch. Der Europarat hat seinen Sitz in Straßburg. Mit einem Beitritt akzeptiert jedes Land, sich unabhängigen Kontrollmechanismen zu unterwerfen, welche die Einhaltung der Menschenrechte und der demokratischen Praktiken auf seinem Hoheitsgebiet prüfen. Neben der Menschenrechtskonvention haben die Staaten des Europarats 223 weitere Abkommen geschlossen, unter anderem die Sozialcharta und die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung.
Die Große Kammer des EGMR gab den „Klimaseniorinnen“ nun recht: Die Schweizer Regierung habe es versäumt, ausreichende Klimaschutzmaßnahmen zu ergreifen.
Die Klage der Klimaseniorinnen
Der EGMR hatte drei Klimaklagen zu einer Sache zusammengefasst und der großen Kammer des Gerichts mit 17 Richtern zur prioritären Behandlung überwiesen.
Die „Klimaseniorinnen“ der Schweiz hatten mit Unterstützung von Greenpeace Schweiz am 26. November 2020 ihre Klage eingereicht.
Sie beschwerten sich, dass die Schweiz es versäumt habe, ihre Pflichten aus der Menschenrechtskonvention zu erfüllen, das Leben wirksam zu schützen (Art. 2) und die Achtung ihres Privat- und Familienlebens, einschließlich ihrer Wohnung, zu gewährleisten (Art. 8). Sie habe keine geeigneten Gesetze erlassen oder ausreichende Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels ergriffen. Die Klimaseniorinnen hatten zuvor alle juristischen Klagemöglichkeiten in der Schweiz erfolglos ausgeschöpft. Die Schweizer Gerichte hatten sich geweigert, in eine Beweisführung einzutreten. Zu Unrecht, wie der EGMR feststellt.
Das Urteil des EGMR
Die 17 Richter und Richterinnen des EGMR urteilten, dass die Schweiz gegen Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstößt, der die Achtung des Privat- und Familienlebens und der Wohnung sichert. Zudem liege ein Verstoß gegen Art. 6 – das Recht auf ein faires Verfahren – vor, da die Schweizer Gerichte den Sachverhalt nicht ausreichend geprüft hätten. Das Urteil gegen die Eidgenossenschaft kann nicht angefochten werden.
Der anthropogene Klimawandel stellt, so das Urteil, eine ernste Bedrohung der Menschenrechte heute und in künftigen Generationen dar. Die Staaten sind sich dessen bewusst und in der Lage, Maßnahmen zu ergreifen, um dem wirksam zu begegnen und die Temperaturerhöhung zu begrenzen. Der Gerichtshof stellte fest, dass die derzeitigen weltweiten Bemühungen zur Eindämmung des Klimawandels nicht ausreichen, um dieses Ziel zu erreichen.
Die Menschenrechtskonvention beinhaltet nach dem Urteil ein Recht des Einzelnen auf wirksamen Schutz durch die staatlichen Behörden vor den schwerwiegenden nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels auf sein Leben, seine Gesundheit, sein Wohlergehen und seine Lebensqualität (Art. 8). Die Staaten müssen Maßnahmen zur Verringerung ihrer Treibhausgasemissionen ergreifen, um grundsätzlich innerhalb der nächsten drei Jahrzehnte Nettoneutralität zu erreichen. In dieser Hinsicht müssen sie einschlägige Zielvorgaben und Zeitpläne aufstellen, die integraler Bestandteil des innerstaatlichen Rechtsrahmens sind und als Grundlage für Minderungsmaßnahmen dienen.
Laut Urteil habe die Schweiz es versäumt, die nationalen Begrenzungen für Treibhausgase beispielsweise durch ein CO2-Budget zu quantifizieren. Außerdem habe sie in der Vergangenheit ihre Ziele zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen nicht erreicht. Zwar hätten die nationalen Behörden bei der Umsetzung von Rechtsvorschriften einen Ermessensspielraum, jedoch sei die Umsetzung zu spät und vor allem nicht in geeigneter Weise erfolgt.
Der Gerichtshof gab der Schweiz keine Maßnahmen vor, die zu ergreifen sind. In Anbetracht des Ermessensspielraums, der dem Staat in diesem Bereich eingeräumt wird, war er der Ansicht, dass sie besser in der Lage ist, die zu ergreifenden konkreten Maßnahmen zu beurteilen.
Zwei weitere Klimaklagen abgewiesen
Die beiden anderen Klimaklagen sah das Gericht dagegen als unzulässig an: Dem ehemaligen Bürgermeister Damien Carême, mittlerweile Abgeordneter im Europäischen Parlament, fehle die erforderliche Opfereigenschaft, so der EGMR. Auch die Klimaklage der sechs portugiesischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist unzulässig. Die Portugiesen hätten zunächst den Rechtsweg in Portugal ausschöpfen müssen, bevor sie den Gerichtshof in Straßburg anrufen, so der EGMR.
Konsequenzen des Urteils
Zwar hat das Urteil unmittelbare Bindungswirkung nur für die Schweiz. Jedoch hat es weitreichende Auswirkungen über die Schweiz hinaus. Es ist ein Präzedenzfall für alle 46 Staaten des Europarats. Für jedes Mitgliedsland ist nun anhand der klaren vom EMGR formulierten Kriterien überprüfbar, ob das Menschenrecht auf Klimaschutz eingehalten wird. Zuständig dafür sind die nationalen Gerichte.
Es darf stark bezweifelt werden, dass die deutsche Klimapolitik den EMGR-Kriterien gerecht wird (siehe „Wo steht Deutschland beim Klimaschutz?“). Entsprechende Klagen werden bereits vorbereitet.
• Verbindlichkeit von EMRK-Urteilen: www.bdev.de/emrbundestag
Auszug aus dem Originaltext des Urteils
548. Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die wirksame Wahrung der durch Artikel 8 des Übereinkommens geschützten Rechte erfordert, dass jeder Vertragsstaat Maßnahmen zur wesentlichen und schrittweisen Verringerung seiner jeweiligen Treibhausgasemissionen ergreift, um grundsätzlich innerhalb der nächsten drei Jahrzehnte Emissionsneutralität zu erreichen. In diesem Zusammenhang ist es für die Wirksamkeit der Maßnahmen erforderlich, dass die Behörden rechtzeitig, angemessen und kohärent handeln.
550. Bei der Beurteilung der Frage, ob ein Staat seinen Ermessensspielraum eingehalten hat (siehe Rdnr. 543), prüft der Gerichtshof, ob die zuständigen innerstaatlichen Behörden, sei es auf der Ebene der Legislative, der Exekutive oder der Judikative, das Erfordernis gebührend berücksichtigt haben: a) Verabschiedung allgemeiner Maßnahmen zur Festlegung eines Zeitplans für die Erreichung der Kohlenstoffneutralität und des verbleibenden Kohlenstoffbudgets für denselben Zeitraum oder einer anderen gleichwertigen Methode zur Quantifizierung künftiger Treibhausgasemissionen im Einklang mit dem übergeordneten Ziel nationaler und/oder globaler Verpflichtungen zur Eindämmung des Klimawandels; b) Zwischenziele und -pfade für die Reduzierung der Treibhausgasemissionen (nach Sektoren oder anderen relevanten Methoden), die grundsätzlich geeignet sind, die nationalen Gesamtziele für die Reduzierung der Treibhausgasemissionen innerhalb der in den nationalen Politiken festgelegten Zeiträume zu erreichen; c) Nachweis, ob die einschlägigen THG-Reduktionsziele ordnungsgemäß erfüllt wurden oder man dabei ist, sie zu erfüllen (siehe die Unterabsätze a) bis b)); d) Aktualisierung der einschlägigen THG-Reduktionsziele mit der gebotenen Sorgfalt und auf der Grundlage der besten verfügbaren Daten; e) Rechtzeitiges Handeln in angemessener und kohärenter Weise bei der Ausarbeitung und Umsetzung der einschlägigen Rechtsvorschriften und Maßnahmen.
552. Ein wirksamer Schutz der Rechte des Einzelnen vor schwerwiegenden nachteiligen Auswirkungen auf sein Leben, seine Gesundheit, sein Wohlergehen und seine Lebensqualität erfordert darüber hinaus, dass die oben genannten Maßnahmen zur Abschwächung des Klimawandels durch Anpassungsmaßnahmen ergänzt werden, die darauf abzielen, die schwerwiegendsten oder unmittelbar bevorstehenden Folgen des Klimawandels abzumildern, wobei alle relevanten besonderen Schutzbedürfnisse berücksichtigt werden müssen.
• Deutsche Übersetzung des Urteils: www.bdev.de/emrdt