Anleitung zur Energie-Revolution

Über 270 Seiten stark ist das Vermächtnis von Hermann Scheer: "Der energethische Imperativ" heißt sein letztes Buch, in dem der renommierte Energieexperte und SPD-Politiker skizziert, wie der vollständige Wandel der Energieversorgung gelingt.

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(16. Dezember 2010) "Größer als die Beatles, schneller als der Rest" schreibt die TAZ, er galt als "Hero of the Century", Solarpapst und Sonnengott - kaum einer hat sein Leben derart den erneuerbaren Energien gewidmet wie Hermann Scheer. Wenige Tage vor seinem plötzlichen Tod erschien sein letztes Buch. Der renommierte Energieexperte fordert darin eine massive Beschleunigung des Energiewandels hin zu erneuerbaren Energien: "100 Prozent jetzt: Wie der vollständige Wechsel zu erneuerbaren Energien zu realisieren ist", lautet der Untertitel der Analyse.

"Der wichtigste Beschleunigungsfaktor ist, jegliche willkürliche Verhinderungspolitik gegen erneuerbare Energien bei Standort-genehmigungen auszuschließen."

Sein Buch ist nicht nur eine Abrechnung mit der schwarzgelben Regierung und der Atomlobby, sondern zeigt konkrete Möglichkeiten auf, wie eine Energieversorgung aus regenerativen Quellen aussehen wird - und zwar nicht irgendwann in der Zukunft, sondern schon in wenigen Jahren. Mit dieser Forderung stellt sich Scheer
in die Tradition des Chemie-Nobelpreisträgers Wilhelm Ostwald, der schon 1912 in seinem Buch "Der energetische Imperativ" forderte, Energie von der Sonne zu nutzen - daher auch der Titel. Am Beginn seines Buchs steht eine systematische Bestandsaufnahme unserer Gesellschaft und ihrer Energieversorgung. Dreh- und Angelpunkt ist dabei die Atomindustrie: "Wäre (...) vor einem halben Jahrhundert mit derselben Intensität auf erneuerbare Energien gesetzt worden, so hätten wir wahrscheinlich heute kein die Weltzivilisation bedrohendes Klimaproblem (...) - und keinen Atommüll, von dem wir nicht wissen, wo, wann und wie wir ihn dauerhaft und sicher lagern sollen und welche Probleme und Kosten er für undenkbar lange Zeiträume hinterlässt", schreibt Scheer.

"Das Schicksalsspiel mit der Erde wird fortgesetzt, immer mit der Rechtfertigung, dass das Potenzial erneuerbarer Energien »derzeit« nicht ausreichend sei."

Nüchtern stellt er dabei fest, dass Experten das Potenzial der Erneuerbaren über viele Jahre hinweg unterschätzt haben: Vor 30 Jahren hielten es selbst Befürworter der Erneuerbaren für unmöglich, dass Erneuerbare eines Tages mehr als fünf Prozent unseres Energiebedarfs decken. Die bisherige Entwicklung zeigt jedoch, dass die Erneuerbaren alle Erwartungen übertroffen haben - und eine 100-Prozent-Versorgung durch Wind- und Sonnenkraft in greifbare Nähe rückt.

Denkfehler im System

Dabei sei es ein "Denkfehler, dass der Bann der Energiewirtschaft gegen erneuerbare Energien gebrochen wäre, sobald diese "wettbewerbsfähig" seien oder gar kostengünstiger produzierten", betont Scheer. Es gehe vielmehr um einen radikalen Systemwechsel - einen Wechsel, in dem die Großversorger unweigerlich die Verlierer sein werden, denn erneuerbare Energien sind heimisch, dezentral und naturgemäß von vielen Anbietern verfügbar. Kein Wunder also, dass den beteiligten Konzernen ein schneller Energiewechsel unmöglich erscheint - sie sehen ihre über Jahrzehnte gehegten Felle davonschwimmen. Deshalb versuchen sie, den Wechsel zu verhindern oder zu verschleppen. Dazu gehörten auch die Investitionen in große Windparks und solare Großkraftwerke: Laut Scheer sind solche Großprojekte Ablenkungs- und Bremsmanöver für den Wechsel. "Weil der Energiewechsel schnell gehen muss, kann er nicht von denjenigen abhängig gemacht werden, die ein wirtschaftliches Eigeninteresse an seiner Verlangsamung haben", mahnt er.

Einige Aufschubstrategien sind besonders augenfällig, etwa der Ruf nach einer "Brückentechnologie", was die weiteren Laufzeiten der Atomkraftwerke rechtfertigen soll. Doch gerade Atomkraftwerke mit über Jahrzehnte kalkulierten Bau- und Laufzeiten hemmen die Erneuerbaren eher, als dass sie ihre Entwicklung beflügeln - zumal die bestehenden Kohlekraftwerke für die "Grundlast" ausreichen. Schließlich seien Solarmodule zum Teil binnen weniger Stunden installiert - allerdings nur, wenn es sich um dezentrale Module handele, und nicht um Großanlagen. Zudem seien konventionelle Kraftwerke nicht geeignet, um im Fall eines Energiemangels bei den Erneuerbaren einzuspringen: Sie lassen sich gar nicht tief genug regeln, beziehungsweise brauchen zu lange, um auf wechselnden Bedarf zu reagieren.

Scheer fordert statt der herkömmlichen Kraftwerke deshalb dezentral gelegene Motorkraftwerke, die bei Bedarf "so schnell anspringen wie ein Auto und beliebig hoch- und runtergeschaltet werden."

Neue Endlager für CO2 ?

Auch an der CCS-CO2-Abscheidetechnologie lässt Scheer kein gutes Haar: Die Probleme dieser Endlagerung würden "von den CCS-Befürwortern genauso heruntergespielt, wie es die Atomenergie-Protagonisten mit dem Atommüll tun." Vielmehr sei die Frage, ob es sicher ist, das CO2 so zu lagern - und ob diese Strategie überhaupt sinnvoll ist: Zum einen kann niemand ausschließen, dass das CO2 nicht doch irgendwann entweicht, zum anderen erfordere die Technologie riesige Endlagerkapazitäten. Darüber hinaus verschlechtere das Verpressen den Wirkungsgrad der Kohlekraftwerke dramatisch und verteure den Kohlestrom.

"Das CCS-Projekt ist ein Tanz auf dem Vulkan."

Scheer fordert, die Kosten für Energie neu zu berechnen und sich dabei an der "ökologischen Wahrheit" zu orientieren: "Die überkommene Energiewirtschaft wird heute laufend von der Gesellschaft und aufgrund der Langfristeffekte der Umweltschäden auch von den nächsten Generationen subventioniert", mahnt er.

Scheer fordert eine Energierevolution und mehr Widerspruch: "Jede Revolution wird zur Farce, wenn den "revolutionären Kräften" Zeitpunkt, Methode und Standort ihrer Aktionen zugewiesen werden sollen, wenn sie sich dafür anmelden und bewerben müssen", schreibt der SPD-Politiker. Die Ablösung der konventionellen Energien könne nur durch viele unabhängige Initiativen an vielen Plätzen erfolgen: "Auch bei der Breiteneinführung der PCs wurde keine Rücksicht auf die Existenz der Schreibmaschinenhersteller genommen, die mittlerweile nahezu verschwunden sind."

"Knapp sind nicht die erneuerbaren Energien, knapp ist die Zeit."

Ein weiteres Argument der Verschleppungs-Taktiker sei die Forderung, der Wechsel müsse in einem "internationalen Gleichklang" erfolgen. Das lähme den Wandel, dabei seien Alleingänge durchaus produktiv: "Das deutsche EEG war der Mutmacher für eine halbe Hundertschaft von Staaten, die erneuerbaren Energien auf
gleichem Weg voranzutreiben." Insgesamt habe das EEG "indirekt wahrscheinlich sogar weltweit mehr Klimaschutzmaßnahmen angestoßen als das gesamte Kyoto-Protokoll", fasst Scheer zusammen.

Beschleunigung heißt das zentrale Stichwort des Buchs: Scheer setzt auf technologische Innovationen, etwa noch bessere Wirkungsgrade von Solarzellen und neue Möglichkeiten, Solarmodule künftig auch in Fenster und Fassaden zu integrieren, das Spektrum solarthermischer Stromerzeugung, solarthermische Kraftwerke, Flüssigsalzspeicher oder Magnesiumhydridsysteme, in denen Wasserstoff einen Stirling-Motor antreibt. Das Potenzial von Kleinwindkraftanlagen und Windkraft in der Stadt, etwa zwischen Hochbauten, sei bislang unterschätzt worden. Das gelte auch für Kleinwasserkraftwerken oder Wellenkraftwerke, schwimmende Solarzellenplattformen und das Potenzial von Biomasse, Doppelnutzung von Freiflächen für Landwirtschaft und Solar- und Windstromerzeugung - und auch die Möglichkeit, den Energiebedarf noch stärker zu senken, etwa durch neue, organische Baumaterialien.

Scheer fordert hauptsächlich zwei Dinge, um den System- und Energiewechsel zu beschleunigen: eine Emissionssteuer und eine grundsätzliche Vorrangstellung für erneuerbare Energien. "Alles andere besorgt die Gesellschaft mit ihren wirtschaftlichen Kräften dann fast von allein, insbesondere auf kommunaler Ebene und mit der sich industriell entfaltenden Technologie."

Aktiver Naturschutz

Zwar seien Erneuerbare-Energie-Anlagen Landschaftseingriffe, aber "sie leisten einen unverzichtbaren Beitrag zum generellen Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, also zum Natur- und Landschaftsschutz", betont Scheer und fordert damit ein Umdenken vom passiven zum aktiven Naturschutz, der Natur und Zivilisation möglichst harmonisieren will, statt Eingriffe zu vermeiden.

"Erneuerbare-Energie-Anlagen sind Landschaftseingriffe, aber sie leisten einen unverzichtbaren Beitrag zum generellen Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, also zum Natur- und Landschaftsschutz."

Die Energiewende wird weitreichende Folgen für die Wirtschaft haben: Wirtschaftliches Wachstum wird mit Umwelterhaltung und Naturwachstum verknüpft. "Der Gegensatz von Ökologie und Ökonomie hebt sich auf, zumal Ökonomie nur eine Unterkategorie von Ökologie sein kann", schreibt Scheer. Dabei eröffne der Energiewandel für die produzierende Wirtschaft neue Wachstumsmöglichkeiten, etwa der Automobilindustrie die E-Fahrzeuge. Synergien ergäben sich auch für die Baustoffwirtschaft, etwa bei der Erfindung und Herstellung von Dächern, Fassaden und Fenstern für Solarstromerzeugung, Wärmegewinnung und Dämmung. Besonders vielfältige Möglichkeiten für Synergien sieht Scheer in der Landwirtschaft, denn sie ermöglicht es, die Produktion von Nahrungsmitteln, Energie- und Industrierohstoffen miteinander zu verknüpfen, etwa dadurch, dass Reststoffe aus der Nahrungsmittelerzeugung zur Energiegewinnung dienen. So entstünden umfangreiche Verwertungsketten und letztlich eine Kreislaufwirtschaft, die Landwirtschaft nicht nur ökologischer, sondern auch ökonomischer mache.

"Es ist die historische Verantwortung der jetzt aktiven Generation, diesen Energiewechsel schon für die nächste Generation zu vollziehen. Es gibt keine Ausreden mehr. Alle Schwierigkeiten auf diesem Weg sind leichter zu bewältigen als die Folgen des Weitermachens."

Scheers Fazit lautet: Wir brauchen den Energiewandel - jetzt, und je schneller und je radikaler, desto besser. Wenn wir jetzt alle Kräfte mobilisieren und den Ausbau der Erneuerbaren ultimativ beschleunigen, kann die Energieversorgung bereits innerhalb von 25 Jahren vollkommen auf erneuerbare Energien umgestellt werden. Voraussetzung ist dabei, dass die Politik die Hemmnisse für das Wachstum der Erneuerbaren entfernt und den erneuerbaren Energien endlich den Stellenwert einräumt, der ihnen gebührt: Vorrang.

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Hermann Scheer | Der energethische Imperativ: 100 Prozent jetzt - Wie der vollständige Wechsel zu erneuerbaren Energien zu realisieren ist.
Kunstmann Verlag, ISBN 978-3888 976 834, 272 Seiten, 19,90 Euro

letzte Änderung: 20.07.2023